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Subjektive Betrachtungen

Blicken wir, als junge Menschen in
die Zukunft, erleben wir die Welt als
funkelndes Prisma von
Möglichkeiten. Alle Türen stehen
offen. Ein Kosmos unbegrenzter
Entfaltung. Es scheint keine Eile zu
geben, zeitlupenhaftes Schweben,
denn das Leben liegt endlos und
vielversprechend vor uns. Es kann
alles geschehen. Ein Wunderland der
Prämieren - das ständig neue
Erlebnisse sprießen lässt.

Später, wenn uns die Realität
bedrohlich auf den Pelz gerückt ist
und etliche Türen zukünftiger
Möglichkeiten bereits zu sind. Wenn
wir nach und nach erkennen, dass wir
selbst diese Türen vor unserer
eigenen Nase zunageln. Ja, dass wir
uns selbst um viele Optionen und
Alternativen – sei es durch Ignoranz,
Angst, Zögern, Faulheit oder
Arroganz – beraubt und betrogen
haben. Dann werden diese Splitter,
wenn die Zeit den Atem anhält,
diese Momente des Entdeckens,
des Debütierens, das Eröffnen
neuer Möglichkeiten rar und
kostbar.

Obwohl jeden Tag nur ein Tag
vergeht und am nächsten alles
wieder genauso zu sein scheint wie
am Vortag – türmen sich die
winzigen Veränderungen nach
einiger Zeit in unüberwindliche
Höhen. Die Entropie der Zeit kann
keiner aufhalten
- und die Welt, so
wie wir sie gekannt haben - gerät aus
den Fugen und hört irgendwann auf
zu existieren... denn wir verlieren
jeden Tag ein Stück von ihr...

Sei es nur, dass ein vertrautes
Gebäude, das wir schon seit unserer
Kindheit kannten, und das zuverlässig
und unverrückbar immer an derselben Stelle
stand - und plötzlich fehlt.
Ein Restaurant oder Lokal, in dem wir
etwas wunderbares erlebt, oder in
dem wir eine Weile Stammkunden
waren
- plötzlich nicht mehr existiert.
Eine frühere Obsession
unwiederbringlich aus dem Leben
verschwindet. Eine lieb gewonnene
Gewohnheit aufhört zu existieren.
Es schmerzt, wenn man einen
geschätzten oder geliebten Menschen
verliert (sei es auch nur durch Umzug
oder Trennung) und man ruft sich die
letzte Begegnung, bei der man
vielleicht noch gar nicht wusste, dass
es die letzte ist, in Erinnerung.

Die erste und wichtigste Lektion,
die der Mensch zu lernen hat, ist
die Demut zu wissen, dass er absolut
nichts auf die Dauer festhalten kann.
Weder Reichtum noch Macht, weder
Liebe noch Schmerz ist von Dauer.
Alles verändert sich und rinnt jedem
durch die Finger, der es festzuhalten
versucht. Das ist der Kern der
buddhistischen Lehre.

In Japan findet diese Erkenntnis ihren
Ausdruck in der Zeit der Kirschbaum-
Blüte. In der traditionellen
Bewunderung dieses alljährlichen
Naturschauspiels, dessen Zauber von
unglaublicher Zartheit und Schönheit
nur für drei Tage anhält und gerade
dadurch Freude und Vergänglichkeit
allen Irdischen sichtbar macht.

Blicken wir zurück
in die Vergangenheit,
so sind 50 Jahre wie ein Tag.
Das ganze Leben nur eine Sendung
im Nachmittagsprogramm.

Der Tanz
einer Kirschbaumblüte im Wind.

Emil