Schriftsteller | Autor

Liebe in den Zeiten der Choleriker

In der Zeit meines Wehrdienstes
waren andere Prioritäten gesetzt.
Meine Aufmerksamkeit war darauf
gerichtet, zumindest äußerlich
Konformität zu heucheln. Während
ich also für meine Kameraden und
Vorgesetzten den angepassten „Bürger
in Uniform“spielte, blieb ich doch
innerlich der langhaarige Rebell der
solchen Arten von Autoritäten,
Hierarchien und kollektiver,
lemmingartiger, vorsätzlicher
Einschränkung des eigenen Denk -
vermögens
( genannt Gehorsam – oder
strikte Befolgung der Dienstvorschriften
)
komplett ablehnend, manchmal sogar
fassungslos gegenüber stand.

Angefangen hatte dieses Desaster mit
dem harmlos aussehenden Zettel der
per Post ins Haus flatterte.
Wehrerfassung stand drauf. Ich hab
ihn weggeworfen. Monate später -
der Termin zur „Musterung“.

Nun wollte ich wenigstens dabei einen
möglichst schlechten körperlichen
Eindruck machen. Untauglich, wäre
wünschenswert gewesen aber auch
eine eingeschränkte Tauglichkeit war
besser als nichts. Dachte ich. Der
Termin
war an einem Montag morgen
und so verbrachte ich das komplette
Wochenende
damit, mich in möglichst
schlechte Verfassung zu bringen.

Ich schlief also an diesem ganzen
Weekend keine zwei Stunden und
versuchte so viel Alkohol, Tabletten
und Drogen zu mir zu nehmen wie
es irgendwie ging, ohne ins Koma zu
fallen.
Es blieben mir nur noch zwei Szenen
aus diesem Musterungs-Event im
Gedächtnis.
Zuerst als man mir aufnötigte nach
dem Messen meines Blutdrucks zehn
Kniebeugen zu machen und an das
Gesicht des Arztes, der danach noch
einmal den Blutdruck kontrollierte.
Mit bewunderndem Blick fragte er:
Wow, sind Sie`n Leistungssportler?“

Die zweite klare Erinnerung betrifft
das Abschlussgremium
(das Tribunal der Verdammten) welches
nach Auswertung der zusammen -
getragenen Daten meiner physischen
Befindlichkeiten, über mich die
Bestnote A1, uneingeschränkte
Tauglichkeit in allen Bereichen
verhängte.

Das war also in die Hose gegangen.

Diese vier Bundeswehrärzte hatten
alle irgendein sichtbares Leiden. Oje
ein Kriegsversehrten-Panoptikum.
Der Eine hatte nur ein Bein, der
Andere ein Glasauge. Dem, welcher
mir zu meiner hervorragenden
körperlichen Form gratulierte hatte -
fehlten zwei Finger an der rechten
Hand. Die Stimme des Letzten war
ein
kaum verständliches, metallisches
Gurgeln, das aus einem künstlichen
Kehlkopf stammte.

Diese ganze Szene stürzte mich nun
in ein seltsames Wechselbad an
Gefühlen. Hallo, bin ich hier auf der
Erde oder im „Narkotika-Land.“
Ist es vielleicht ähnlich wie bei
diesem Scrooge in Dickens
Weihnachtsgeschichte – und sollte
ich vielleicht dankbar dafür sein,
dass ich nicht zu diesen Freaks
gehören musste?
Ich war mir nicht ganz sicher, ob das
alles real war, was ich zu sehen
glaubte, oder eventuell halluzinäre
Nachwirkungen meiner Wochenend-
Behandlung. Unmittelbar, war mir
irgendwie zum Lachen zumute,
musste ich doch an die Symbolik der
drei Affen denken und fand das
einerseits
sehr erheiternd.
Andererseits erschreckend traurig.
Erschienen mir diese Leute doch
äußerst bemitleidenswert und die
ganze Szene irgendwie unwirklich
und bizarr. Ich stand hier, jung, mit
erweitertem Bewusstsein, ein-
geschränkter Realitätswahrnehmung
und wie eben bescheinigt, sogar
ungewollt noch in Bestform; während
sie, eine knappe Handvoll hoch
dekorierter Veteranen, Stabsärzte die
aus dem eigentlichen aktiven Dienst
ausgemustert worden waren, eine
Entscheidung über 15 Monate meines
Lebens treffen durften. Sie gratulierten
mir mit aufrichtiger Begeisterung zu
etwas, das ich nicht haben wollte
und sie nicht mehr haben konnten.

So wie es aussah, durfte ich also
keinesfalls hoffen an dieser Sache
vorbei zu kommen. Jetzt stand noch
der Eignungstest an, von welchem
abhängig
gemacht wurde, zu welchem
Truppenteil und zu welcher Einheit
ich geschickt werden würde. Da ich
nicht gerne zu den „Mulitreibern“
(Gebirgsjägern) oder den „Kanalratten“
(Panzerpioniere) gehören wollte,
beschloss ich, bei diesem Test mein
Bestes zu geben. Und hoppla, ich
war bei Bundesweit etwa 350 000
neuen Rekruten dieses Jahrgangs
unter die besten 50 gekommen.

Aus diesen 50 Intelligenzbestien
wurde nämlich jetzt eine spezielle
Ausbildungskompanie in der
Luftabwehrkaserne in Erndtebrück
gebildet. Man hatte im Norden der
Bundesrepublik offene Stellen im
Radarleitdienst die üblicherweise mit
hochqualifizierten Unteroffizieren
und Feldwebeln besetzt wurden.
Derzeit
gab es aber zu wenige geeignete
Soldaten dieses Ranges und so hatte
die Luftwaffen-Führung beschlossen,
aus den talentiertesten Rekruten eine
Spezialausbildungseinheit zusammen
zustellen um möglichst schnell die
Lücken dieser wichtigen Positionen
abdecken zu können.
Zu diesem Haufen sollte ich am 03.Januar
des folgenden Jahres dazustoßen.

Im Grunde musste ich mich ab
diesem Datum völlig neu definieren.
Das Selbstbewusstsein war gründlich
auf Talfahrt, ich hatte mein langes
Haar opfern müssen, Orden und
Abzeichen meiner inneren
Überzeugung.
Meine staatsbürgerlichen Rechte
waren für die Dauer von
15 Monaten
eingeschränkt. Ich war aus der Band
raus. Meine feste Freundin hatte mir
den Laufpass gegeben und
weder meine Eltern, noch mein
Freundeskreis konnten in dieser
Bundeswehrsache auch nur das
Mindeste für mich tun. Ich war also
völlig auf mich allein gestellt
, in einer
völlig fremden Welt die sich nach
völlig unbekannten Gesetzen drehte.

Dennoch
fühlte ich mich keineswegs
eingeschüchtert und zu devotem
Verhalten geneigt. Im Gegenteil, ich
testete gleich von Anfang an dieses
neue soziale Spielfeld und meine
Gegner. Ich war der Einzige, der
bereits am ersten Tag
(mehr oder
weniger absichtlich
) seinen Zug
verpasste und dadurch mit etwa
zehn-stündiger Verspätung nachts
gegen 23°° Uhr erst ankam.
Der Empfang für mich war weniger
herzlich als lautstark. Festes
Beförderungskriterium, dachte ich
mir an diesem denkwürdigen Tag,
ist wohl die Neigung sein
cholerisches Verhalten auszuleben.

Alle pünktlichen Rekruten waren
schon in militärischer Tracht
(der Uniform) eingekleidet - ich nicht.
Die Bekleidungskammer hatte nur
Montag und Donnerstag geöffnet.
Somit blieb ich für die ersten Tage
ein Alien, der Einzige, der in Zivil
mitmarschierte. Geil!
Und die Absätze meiner Cowboy-
Stiefel klackten so super, wenn ich,
der einzige Farbklecks dieser
einheitsgrünen Frusttruppe bei dieser
sinnfreien Marschiererei dem
schlichten links – rechts 4/4el Takt
noch ein paar gesteppte Synkopen
beifügte. (
Wer war das?)

Aber in diesem Verein musste ich
äußerst behutsam vorgehen, war es
doch für jeden Schwachkopf, der
zufällig einen höheren Dienstrang
hatte
(die ersten 6 Monate praktisch alle)
ein leichtes, die Rekruten, also auch
mich, zu schikanieren. Und es gab
unter den Ausbildern nicht wenige,
die diesen Job nur aus diesem
schlichten Grund zu lieben schienen.
Dazu hatten diese Sadisten viele
Möglichkeiten
(genannt Disziplinarmaßnahmen):
Wachdienst am Wochenende – also
nix heimfahren; erweitertes Revier
reinigen; Ausgangssperre; spezielle
Putzdienste z.B. Latrinen und Dusch-
räume; nächtliche Gewaltmärsche;
usw...

Nicht eine, ich betone njet, nada,
nothing, keine dieser „Katastrophen“
hat mich je in diesen 15 Monaten
ereilt. Dank einer kultivierten
Unauffälligkeit
(obwohl ich trotzdem in
gewissen Bereichen durchaus präsent war)
und der Nervenstärke, den
Vorgesetzten auch mal die Eine oder
Andere faustdicke Lüge aufzutischen,
blieb ich bereits in der Grundaus-
bildung tatsächlich der Einzige der
nie Wachdienst machen musste und
jedes Wochenende nach Hause fuhr.
Nicht einmal die Regeldienste trat ich
an, und schon gar keine Strafdienste.
Einen meiner Hauptausbilder, der mir
teilweise auf die Schliche
gekommen war, konnte ich durch
gezielte Desinformation über den
Zeitpunkt meiner Versetzung
buchstäblich „an die Wand laufen
lassen“.
Ich erinnere mich auch noch gut an
das schiere Entsetzen in den
aufgerissenen Augen meiner
Zimmerkameraden, als ich eines
morgens den Wecksirenen und ihren
gutgemeinten Weckversuchen
widerstand, in meine warmen Decken
gekuschelt liegen blieb und ihnen
verkündete, ich werde am heutigen
Morgenappell nicht teilnehmen.
Längst hatte ich festgestellt, dass
beim Morgenappell keine 100-pro-
zentige Anwesenheitskontrolle
durchgeführt wurde und es reizte
mich einfach dieses System
anzutesten.
Ich ließ sie alleine marschieren und
stieß erst in der
Frühstückskantine ohne aufzufallen
wieder zu ihnen. Das war nur eine
von vielen ähnlicher Situationen.
Wenn ich in diesen 15 Monaten
etwas nutzbringendes gelernt habe,
dann ist es in wenigen kurzen
Sätzen zu schildern:

a - Verhaltensmuster Änderung.
Unauffällig bleiben. Weder angenehm,
noch unangenehm auffallen und die
Lücken im System finden.
Nervenstärke zeigen und sich nicht
einschüchtern lassen.

b - Schauspielerische Leistungen
erbringen - wie z.B. im richtigen
Moment so zu tun als wäre man
eingeschüchtert.

c - Manipulation Vorgesetzte
vorsichtig gegeneinander
ausspielen um sich möglichst
viele Freiräume zu verschaffen.

d - Das Schlafen im Stehen.

e - Billard spielen
(als kleiner Zusatzverdienst) Meist mit
Unteroffizieren, die fest davon
überzeugt waren, dass ihnen allein
ihr höherer Dienstgrad bereits
Vorteile verschaffen und einen Sieg
über einen einfachen Gefreiten
erleichtern müsste.

f - Soziale Erkenntnis.
Dass jeder, der sich in einem solchen
starren hierarchischen Gefüge wohl
fühlt, sich in ein solches System
integriert und auch geistig darin
aufgeht, eine andere Art von Mensch
ist, oder spätestens nach einigen
Jahren in diesem Verbund eine andere
Art von Mensch sein wird. In meiner
subjektiven Definition - ein Vollidiot.

In dieser Zeit der ständigen inneren
Anspannung und des Persönlichkeits-
Spagats hatte ich keinen Bedarf an
komplizierten Beziehungen und
reduzierte unwillkürlich meine
sexuellen Bedürfnisse auf schnell
wechselnde Wochenend-Verhältnisse
und „one-night-stand´s“.
Jetzt, mit dem gebührenden zeitlichen
Abstand würde ich sogar sagen, ich
benutzte meine Partnerinnen um mein
seelisches Gleichgewicht zu
stabilisieren. Es dürften in diesen
15 Monaten mindestens ebenso viele
Mädchen
gewesen sein, aber sie
haben die geringsten Spuren in mir
und meinem Gedächtnis hinterlassen.
Wenn ich diesbezüglich in meiner
Erinnerung krame, tauchen nur
wenige Gesichter und nur einige vage
erotische Episoden aus dieser
nebligen Periode des sexuellen
Egoismus auf. Erst kurz vor
meiner Entlassung aus dem aktiven
Dienst lernte ich Sandra kennen und
verliebte mich einmal mehr.

Emil